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Ich und ich und ich gegen den Schattenkönig

14. Juni 2023

Gucken wir bei Marvel mal auf die blanken Zahlen: Marvel Phase 1 bestand sechs Filmen, die in einem Zeitraum von fünf Jahren veröffentlicht wurden. Marvel Phase 2 blieb bei sechs Filmen, die aber innerhalb von drei Jahren in die Kinos kamen. Hier merkt man schon, der Erfolg bringt Marvel dazu, schneller zu agieren. Was sich dann vor allem in Phase 3 zeigte: In nur vier Jahren haute Marvel ganze ELF Filme raus und beendete damit die große Infinity-Saga. Viele Kritiker und mittlerweile auch Fans sagen, dass nach „Endgame“ bei Marvel ein bisschen die Luft raus ist. Wenn wir hier auf die blanken Zahlen für Phase 4 gucken, scheint das aber nicht der Fall zu sein: Im Gegenteil, durch das Hinzukommen der ganzen Serien, die jetzt Teil des MCUs sind (alle anderen Serien waren es ja vorher nicht), wird Marvel nur noch größer: Sieben Filme, acht große Serien und zwei Streaming-Specials setzt die Menge an veröffentlichten Marvel-Werken auf SIEBZEHN (!!!) innerhalb von nur ZWEI Jahren. Wenn mir jetzt jemand kommt, Marvel würde nur noch auf Quantität statt auf Qualität setzen, kann man da schwer gegenargumentieren – zumal gerade in Phase 4 sehr viel mehr genörgelt wird (siehe „Black Widow“, siehe „Thor 4“, siehe „Eternals“, siehe „What If…“, siehe „She-Hulk“). Marvel tut dieser riesige Output irgendwie echt nicht gut… und dabei war Marvel mal wirklich fantastisch. Vor allem in den Zeiten lange vor dem MCU. Wenn ich mir Filme wie „Blade“, „X-Men“ oder „Spider-Man“ anschaue, frage ich mich schon: „Wo ist dieser Zauber hin?“ Letztens habe ich mich das auch wieder gefragt, als ich eine der besten (wenn nicht sogar DIE beste) Marvel-Serie überhaupt geguckt habe: „LEGION“.

David Haller (Dan Stevens) wird seit seiner Kindheit von Stimmen in seinem Kopf gequält, weswegen er irgendwann in der Psychiatrie landet. Hier lernt er seine beste Freundin Lenny (Aubrey Plaza) sowie auch die Liebe seines Lebens Syd (Rachel Keller) kennen, die sich aber von niemandem anfassen lässt. Als er von der Organisation Division 3 gejagt wird, wird ihm deutlich, dass die Stimmen in seinem Kopf real sind. Er wird von einer Gruppe Mutanten unter der Leitung von Melanie Bird (Jean Smart) gerettet und so kommt die Wahrheit ans Licht: David ist ein Mutant und ein sehr mächtiger dazu. Die Stimmen und Dinge, die er sieht, stammen von einem parasitären Mutanten namens Shadow King, der sich seit Davids Geburt an ihn geheftet hat.

Ich bin eher zufällig auf „Legion“ gestoßen. Ich hatte vorher mal ein bisschen was von der Serie gehört, aber bin nie weiter drauf eingegangen. Nachdem ich es dann doch einmal gemacht habe, war ich sofort wie gebannt. An einem Tag hatte ich die komplette erste Staffel durch, Staffel 2 und 3 ließen dann auch nicht lange auf sich warten. Und ich packe jetzt all drei Staffeln in einen Artikel, weil Macher Noah Hawley die Serie von Anfang an auf drei Staffeln ausgelegt hatte… und somit schon von Anfang an wusste, wie seine Geschichte ausgehen wird. Was „Legion“ einfach zu einem fantastischen Seherlebnis macht.

Staffel 1 zeigt uns David als Opfer. Er weiß nicht, was mit ihm passiert; er weiß nicht, was er kann; er weiß nicht, was ihn quält. David muss erst lernen, was mit ihm passiert und aus diesem Kreislauf ausbrechen. Staffel 2 zeigt uns David dann als Herr über seine Fähigkeiten, der sich von seinem Parasiten befreien und jetzt „normal“ gegen ihn kämpfen muss. In Staffel 3 steht dann auf einmal alles gegen David, er wirkt wie ein Schurke, auch wenn seine Motivation durch seine lange Vorgeschichte durchaus verständlich ist. Die Figur von David Haller durchläuft eine interessante Heldenreise in diesen drei Staffeln, wie man sie so bei Marvel mittlerweile einfach echt vermisst. Noah Hawley stellt diese Figur komplett auf den Kopf, lässt uns in die Untiefen der Psyche dieses Mannes eintauchen und so erleben wir den Horror der Schizophrenie auf eine Art und Weise, wie es selbst Marvels „Moon Knight“ nicht hat greifen können, so erleben wir den Höhenflug eines Helden, der dann durch seine eigene Hybris zu Fall gebracht wird. Und das, wie gesagt, nur anhand dieser einen Figur, die von Dan Stevens grandios gespielt wird.

Das würde jetzt gefühlt schon ausreichen, um „Legion“ zu einer fantastischen Serie zu machen, aber Noah Hawley würzt das Ganze mit so vielen und so unglaublich interessanten Nebenfiguren (obwohl der Begriff „Nebenfiguren“ total falsch ist – sie stehen gleichberechtigt zu David). Ich weiß gar nicht, wo ich hier anfangen soll: Aubrey Plaza als Lenny ist großartig – in gleichen Maßen zynisch, unsicher, Macho. Sie ist Engel und Teufel in einer Person und was man gerade aus ihrer Figur macht, ist in der Entwicklung der drei Staffeln eine ziemlich wilde Achterbahn-Fahrt. Rachel Keller als Syd ist ein bisschen Rogue aus den „X-Men“-Filmen, aber auch ihr gibt man eine spannende Backstory als auch eine gute Hauptstory, in der sie nicht einfach nur der Love-Interest von David ist. Wirklich geliebt habe ich das Duo Cary (Bill Irwin) und Kerry (Amber Midthunder, jupp, die aus „Prey“): Cary kann seine Persönlichkeit aufsplitten und so entsteht diese Symbiose mit Kerry. Sehr toll gemacht, tolles Duo, das auch sehr viele, sehr emotionale Momente bekommt. Ich kann ewig so weitermachen, weil „Legion“ es einfach versteht, unzählige Figuren einzuführen, ohne den Überblick zu verlieren. Zu jedem Charakter baut man, dank gut ausgearbeiteten Hintergrundgeschichten, eine Bindung auf, es gibt hier niemanden, den man als überflüssig bezeichnen würde. Alle sind essentiell für diese Geschichte.

Wirklich stark ist auch, dass der Shadow King durch die ganze Serie hindurch, der Schurke ist. Es geht nicht nach dem Motto: „Erste Staffel besiegt, dann kommt in Staffel 2 was anderes.“ Nein, weil in Staffel 1 ist der Shadow King ein Monster, von dem wir lange nicht wissen, ob David es sich vielleicht nur einbildet. Erst in Staffel 2 zeigt er seine wahre Gestalt und in Staffel 3… das will ich nicht spoilern.

Jetzt habe ich so lange nur die Charaktere und den Story-Aufbau gelobt, was aber nicht vergessen darf, ist der Art der Kreativität, wie hier mit Davids Schizophrenie und den Konzepten von Gedankenlesen, Telepathie, etc. umgegangen wird. „Legion“ ist eine der kreativsten und ungewöhnlichsten Comic-Serien, die mir bis jetzt untergekommen sind. Statt auf großen Bombast zu setzen, haben sich Noah Hawley und sein Team wirklich Gedanken gemacht. In Staffel 2 zum Beispiel haben wir einen Erzähler (Jon Hamm), der uns Begriff wie „Wahnsinn“ und „Wahnvorstellungen“ vorstellt, der uns über den Nocebo-Effekt aufklärt, wie wir Realität wahrnehmen oder wie es zu einer Massenpanik kommen kann, bevor genau solche Konzepte auch Teil der Serie werden.

Gleichzeitig werden aber auch die Mutanten-Fähigkeiten der Telepathie, der Gedankenkontrolle auf kreative Art und Weise umgesetzt. Da gibt es dann Sequenzen, die wie ein Stummfilm sind, andere, in denen Fotos aneinandergereiht werden. Wir haben merkwürdig-skurrile Gesangs- und Tanzkämpfe. Es wird „Matrix“-artig in Dimensionen der Gedanken gekämpft. Es wird zu „Bolero“ gekämpft, zu „Behind Blue Eyes“. Was diese Serie aus Konfrontationen herausholt, ist auf einem ganz neuen Level. Klar, es gibt auch sehr viel Action, gute Kämpfe, sehr brutale Kämpfe, aber diese Serie geht mit Köpfchen vor, weil sie letztendlich ja auch im Köpfchen spielt – und deswegen ist Gewalt hier längst nicht alles.

Nachdem was wahrscheinlich einer meiner längsten Texte auf diesem Blog ist, höre ich dann jetzt mal auf. Ich kann euch „Legion“ wirklich nur wärmsten empfehlen… die Serie hat wirklich alles, was man von guter Unterhaltung erwartet… und fühlt sich dabei nie wirklich wie eine Comic-Serie an. Noah Hawley nimmt seine Figuren und seine Geschichte ernst, erlaubt lustige, traurige und harte Momente, entwickelt wirklich alle gut aus, verliert niemanden aus dem Auge und liefert einfach die beste Marvel-Serie, die es gibt (und ja, ich finde das Ganze auch sehr viel besser als „Daredevil“, eine Serie, die bislang für mich diesen Titel getragen hat).

Wertung: 10 von 10 Punkten (wäre schön, wenn Marvel mal wieder zu diesem Niveau kommen würde)

2 Kommentare leave one →
  1. 7. Juli 2023 16:34

    Oh man, ich habe nie Staffel 3 gesehen. Glaube die war nirgends verfügbar, nicht mal auf Disc (in DE) und dann habe ich den Faden verloren. Aber ich kann mich erinnern, dass ich sie supergut und v.A: innovativ fand. Alleine wie es so langsam aber stetig den Shift Davids vorbereitet, der dann am Ende von Staffel 2 einen ganz schön harten Kontrast setzt. Von der Sorte würde ich mir auch mehr (Superhelden)Serien wünschen. Jetzt muss ich mal recherchieren wie ich an Staffel 3 komme..

    • donpozuelo permalink*
      9. Juli 2023 14:29

      Solltest du Disney+ haben, hat sich die Recherche erledigt. Da gibt es alle drei Staffeln… und ja, sieh zu, dass du das nochmal guckst 😅 gerade mit der aktuellen Marvel-Müdigkeit zeigt die Serie einfach nochmal, wie es sein könnte.

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