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Rachenengel in Blau

18. Januar 2023

Der Däne Nicolas Winding Refn ist für mich der Inbegriff von „style over substance“… was aber sehr oft eigentlich negativ konnotiert ist, ist bei Refn oder NWR, wie er sich mittlerweile gerne selbst nennt, zu einer Kunstform geworden, die unglaublich gut funktioniert. Dabei fing das doch eher etwas später an, wenn ich so an „Bronson“ denke, das hält sich „style“ und „substance“ noch die Waage. Aber spätestens mit „Drive“ ging es dann schon los, wurde in „Only God Forgives“ auf die Spitze getrieben, bevor es dann in „The Neon Demon“ seinen Höhepunkt fand. Doch seit diesem Film hat sich NWR in den Serienbereich zurückgezogen, machte er für Amazon die Serie „Too Old To Die Young“ mit Miles Teller (die ich immer noch nicht gesehen habe) und ist jetzt auf Netflix mit „COPENHAGEN COWBOY“ zu sehen, einer Serie, die mich von Sekunde Eins absolut in ihren Bann gezogen hat (bei der ich aber auch jeden verstehen kann, der sagt: „Sebastian, was war das denn für ein Mist?“).

Miu (Angela Bundalovic) landet bei Rosella (Dragana Milutinovic), die mit ihrem Sohn in Dänemark einen Mädchenhändler-Ring betreibt. Doch Rosella will Miu für sich allein, weil sie sich sicher ist, dass Miu ein Glücksbringer ist, der ihr zur Schwangerschaft verhelfen kann. So gerät Miu zum ersten Mal in die Machenschaften der Unterwelt. Von dem Mädchenhändler-Ring kommt sie später zu Mutter Hulda (Li li Zhang), die sie darum bittet, ihr zu helfen. Der Gangster Chiang (Jason Hendil-Forssell) hat Huldas Tochter, um aber an die heranzukommen, muss Miu noch tiefer in die Unterwelt herabsteigen… und macht dabei Niklas (Andreas Lykke Jorgensen) auf sich aufmerksam, Spross einer reichen und sehr merkwürdigen Familie.

„Copenhagen Cowboy“ ist alles: Gangster-Epos, Martial-Arts-Actioner, Märchen mit Fantasy-Elementen, vielleicht auch Science-Fiction und definitiv Drama über unterschiedliche Menschen, die durch die Machenschaften der kriminellen Unterwelt Kopenhagens in einen Strudel von Gewalt und Trauer geraten. „Copenhagen Cowboy“ widersetzt sich eigentlich jedweder Genre-Bezeichnung. Für mich ist die Serie ein wilder Ritt gewesen, der mich hypnotisch in seinen Bann gezogen hat. Das war, als hätte Haruki Murakami ne Menge LSD geschmissen, eine Geschichte über eine junge Frau mit besonderen Fähigkeiten geschrieben und es anschließend von David Lynch in bester „Twin Peaks“-Manier verfilmen lassen.

Die Serie hat diesen merkwürdigen magischen Realismus, den man von Murakami kennt. Es gibt in „Copenhagen Cowboy“ Elemente, die lassen sich rational nicht erklären… und geben dem Gesehenen eine ganz besondere Aura. Das betrifft vor allem Miu selbst. NWR liebt ja diese stoischen Hauptfiguren, die kaum ein Wort sagen, meist nur lässig durch die Gegend gucken und dann machen, was sie machen müssen. Miu ist das in Perfektion.

Angela Bundalovic wirkt auf den ersten Blick sehr unscheinbar, ein bisschen jungenhaft, sehr verschlossen und unsicher, aber gleichzeitig auch sehr gestärkt und unerschrocken – auch wenn sie zum Beispiel beim Mädchenhändlerring sieht, was da alles passiert. Bundalovic macht aus Miu ein perfektes Mysterium in Blau – es gab nie eine Person, die cooler und lässiger in einem blauen Trainingsanzug ausgesehen hat. Gerade weil Bundalovic diese Miu so stoisch spielt, bleibt sie uns die ganze Zeit ein Geheimnis. Man merkt, das da mehr hinter dieser Fassade steckt – irgendwelche Fähigkeiten scheint sie zu haben, aber was sie ist – Engel, Teufel, Hexe, Glücksbringer – kann man nie so genau sagen. Sie scheint alles davon zu sein… und hat ein ganz besonderes Ziel vor Augen. Aber was das ist, deutet NWR nur sehr wage an.

Dabei schafft er es aber, in jeder Episode ein paar neue Sachen zu offenbaren bzw. anzudeuten, sodass man am Ende so angefixt ist und unbedingt mehr erfahren will. Erzählerisch steckt er seine Miu in eine Welt voller Mysterien und Merkwürdigkeiten, die sich nie so richtig erklären lassen (es steckt wirklich viel „Twin Peaks“ in diesem Kopenhagen von Refn). Erzählerisch hat mich das alles sehr mitgenommen…

… optisch und auditiv wird „Copenhagen Cowboy“ aber auch zu einem echten Erlebnis. NWR perfektioniert in dieser Serie den 360-Grad-One-Take. Die Kamera dreht sich im Kreis und die Handlung spielt sich drumherum perfekt orchestriert von ihm ab. Er schwelgt hier in langsamen Kamera-Bewegungen und in perfekt symmetrischen Bildern. Er zeigt hier wieder mal seine Liebe für Neon-Farben. Jede Bewegung, jeder Schnitt, jedes Bild ist perfekt inszeniert… dazu ein reißender Synthie-Soundtrack, der ordentlich durch die Lautsprecher dröhnt und merkwürdige Soundeffekte, die das Magische der Serie nochmal unterstreichen. So grunzt der Liebhaber von Rosella zum Beispiel die ganze Zeit wie ein Schwein… oder bei einem sehr coole Kampf ertönt bei jedem Zusammenstoß der Fäuste ein anderer Ton, mal mechanisch, mal organisch, aber immer sehr merkwürdig.

„Copenhagen Cowboy“ ist ein Kunstwerk, bei dem NWR alles, was ihn ausmacht, darbietet… und mit Sicherheit das Publikum spalten wird. Ich habe mir sagen lassen, dass diese Serie zugänglicher sei als seine Amazon-Serie, die ich jetzt aber auch unbedingt sehen will.

Wenn ich an „Copenhagen Cowboy“ eine Sache zu bemängeln hätte, dann ist es die Tatsache, dass das Ganze mit einem fiesen, richtig, richtig fiesen Cliffhanger endet… und es im Augenblick überhaupt nicht absehbar ist, ob Netflix da eine zweite Staffel produzieren wird.

Wertung: 9 von 10 Punkten (sehr speziell, sehr Nicolas Winding Refn, aber wenn man sich drauf einlässt, sehr hypnotisch)

One Comment leave one →
  1. 6. Februar 2023 18:09

    Deine Besprechung habe ich mir aufgehoben für den Zeitpunkt, wenn meine fertig ist und wir haben einige ähnliche Punkte. U.a. die Unsicherheit, ob es eine zweite Staffel geben wird.
    Und! Obwohl ich bisher fast nix von NWR ausgelassen habe, hab auch ich seine für Amazon produzierte Serie bisher nicht gesehen. Ich bin aber auch gerade nicht so wahnsinnig erpicht darauf. Erstmal gucken, was aus Copenhagen Cowboy wird. Ich finde es total faszinierend, dass er anfangs scheinbar gar nicht mit dem gerechnet und geplant hat, was dann hier letzten Endes rauskam. Man fragt sich wie gut das für ihn funktioniert. Und einerseits spricht das wohl dafür, dass Netflix sich nicht einmischt. Fluch und Sehen, schätze ich. Wenn es dann letzten Endes abgesägt wird, wohl in dem Fall eher Fluch.

    Und wie ich die Serie fand, verrät dann meine Besprechung, die morgen oder so online geht. Irgendwie muss man ja die Erwartungshaltung aufrecht erhalten XD

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