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Random Sunday #96: Die Flüchtigen

27. November 2022

Dieses Jahr war bei mir Lese-technisch sehr von den modernen Franzosen beeinflusst. Immerhin hatte ich insgesamt drei französische Autoren auf meiner Liste für 2022, was zwar nicht nach viel klingt, aber doch drei mehr sind als in den Jahren davor. Und alle haben mir echt sehr zugesagt – zumal alle drei auch in eine spannend-spekulative Richtung gingen. „Die Anomalie“ war Sci-Fi-Multiverse-Zeug, das ich einfach nur weggeatmet habe. „Eroberung“ war eine interessante historische „Was wäre, wenn die Inkas Europa erobert hätten“-Geschichte und mit „DIE FLÜCHTIGEN“ von Alain Damasio habe ich möglicherweise dieses Jahr den Jackpot gewonnen.

Sahar und Lorca führen eine glückliche Ehe, bis auf einmal ihre junge Tochter Tishka spurlos verschwindet. Die Suche nach ihr zerstört die Beziehung der Beiden, denn Lorca verliert sich scheinbar in einer wahnwitzigen Idee: Er glaubt, die Flüchtigen hätten Tishka entführt… das sind Wesen, die ständig um uns herum leben, aber sich immer im toten Winkel aufhalten, so dass wir sie nie sehen können. Wenn man es aber schafft, sie zu sehen, versteinern sie. Das wiederum lernt Lorca in der Spezialeinheit des Militärs, die sich auf Flüchtige spezialisiert hat… denn deren Tarn-Mechanismen wären ja auch für die Armee interessant.

„Die Flüchtigen“ ist ein grandioses, aber auch irgendwie schwer zu beschreibendes Buch. Der Buchrücken liest sich halt wirklich wie eine Art Horror-Geschichte über kleine Monster, die Kinder entführen und merkwürdige, rote Symbole an Wänden zurücklassen. Klar, das hatte mich irgendwie auch ein bisschen angezogen, aber am Ende stellte sich „Die Flüchtigen“ als so viel mehr als nur das heraus.

Alain Damasio erzählt nämlich nicht einfach nur die Geschichte von Lorca und Sahar, erzählt uns nicht einfach nur von der Jagd nach diesen Flüchtigen, sondern zeichnet uns gleichzeitig ein verdammt unheimliches Zukunftsbild. Ja, „Die Flüchtigen“ ist nämlich auch Science-Fiction… aber ohne Raumschiffe, sondern eher ein glaubhafter Blick in Richtung Zukunft. Bei Damasio sind alle durch elektrische Ringe versehen, die ständig Daten senden. Überall kommt man nur mit Ring hin, Werbung wird auf den Ringträger spezifisch angepasst, das ganze Leben orientiert sich daran. Gleichzeitig drängt der dadurch effizienter gemachte Kapitalismus die Gesellschaft auch weiter und weiter auseinander. Menschen werden in Platin, Premium, Standard und Ringlose unterteilt, wobei die Ringlosen Anarchisten sind, die sich ihrer Ringe entledigen und für ein bessere Miteinander kämpfen wollen.

Damasio entwickelt hier Szenarien, die unheimlich und vor allem unheimlich realistisch wirken. Demokratie existiert nicht mehr, es existiert nur noch das Kapital. Ganze Städte werden eher von großen Unternehmen geführt, weil sie in der Vergangenheit mehr und mehr Einfluss auf die Politik gewonnen haben. Die Art und Weise, wie Damasio diese Entwicklungen beschreibt, wie er auf die Probleme der einfachen Bürger und ihren Kampf für ein freies Leben eingeht, ist beeindruckend und halt auch erschreckend realistisch. Gerade wenn man sich auch ein wenig die Entwicklungen anschaut, die wir selbst miterleben. Dabei geht Damasio sehr bildgewaltig vor und mixt gekonnt große Action-Sequenzen (wenn große Luxus-Wohnkomplexe für Platin-Menschen erstürmt und besetzt werden) und Beschreibungen der zukünftigen Gesellschaft.

Im Mittelpunkt stehen aber trotzdem auch immer noch Lorca und die Flüchtigen. Lorcas Team beim Militär bringt uns in das Gebiet der Flüchtigen-Forschung und konfrontiert uns mit interessanten Kreaturen, die ich so literarisch auch noch nicht erlebt habe. Dabei schafft es Damasio um diese Wesen ein gekonntes Mysterium aufzubauen, dass zum Glück nie so ganz und vollständig aufgeklärt wird, aber was jetzt nichts Negatives ist – im Gegenteil, wie die Flüchtigen in diese Welt von Damasio passen, ist ziemlich clever gemacht.

„Die Flüchtigen“ ist also wirklich ein sehr intelligenter Mix aus futuristischem Politik-Roman, Kapitalismus-Kritik, Horror, Action und persönlichem Drama.

Allerdings erfordert der Roman auch von jedem, der das Ding in die Hand nimmt, eine Menge Aufmerksamkeit, denn Damasio spielt nicht nur mit Genres, sondern auch mit dem Schreiben selbst. Da wäre zum einen die Tatsache, dass sich Fehler einmischen, flüchtige (!) Fehler, die man überliest, die aber ein komisches Gefühl hinterlassen (war da nicht gerade was falsch?). Dazu tauchen Satzzeichen an komischen Stellen auf, manchmal werden einem auch nur Aneinanderreihungen vorgesetzt oder es werden komplett neue Wörter mit anderen Typografien verwendet. Man hat das Gefühl, selbst das Schriftbild ist von den Flüchtigen verändert worden. Dazu kommt, dass diese Zukunft eine ganz andere Art des Redens hat, neue Begriffe müssen erlernt werden, die nicht immer sofort erklärt werden. Alain Damasio fordert uns beim Lesen so richtig heraus – nicht nur mit seinen wilden, faszinierenden Ideen, sondern auch mit der Art und Weise, wie er schreibt.

„Erschwerend“ kommt hinzu, dass er innerhalb eines Kapitels die Charaktere durchwechselt, ohne das man sofort weiß, bei wem wir jetzt gelandet sind. Das irritiert manchmal und verlangsamt das Lesen, weil man nochmal zurückgeht, wenn man dann endlich verstanden, wer hier gerade was erzählt.

„Die Flüchtigen“ ist also wirklich ein richtiges Erlebnis-Buch, das ziemlich herausfordernd ist, aber die Geduld und die Arbeit, die man hier dann auch ins Lesen steckt, mehr als nur belohnt – immerhin erwartet uns hier einfach ideen-reiche Geschichte, die erstaunt und erschreckt zugleich – und das auf sehr vielen unterschiedlichen Ebenen.

2 Kommentare leave one →
  1. 3. Dezember 2022 21:05

    Ah solche Bücher mit gewissen Meta-Ebenen mag ich ja sehr gern. House of Leaves, S., Maxwells Dämon, die machen schon Spaß, auch wenn sie anstrengend sein können. Danke für den Tipp!

    • donpozuelo permalink*
      4. Dezember 2022 09:14

      Maxwells Dämon steht bei mir Dank dir auf meiner Liste. Also gebe ich diesen Tipp gerne zurück.

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